Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.
Lieber Klaus –
und dann packt es dich plötzlich, also mich, mitten in all dem Schönefeld und stickige Luft und anonyme Gesichter und Getränkeautomaten und Codes und Dokumente und die Hoffnung auf Ankunft. Es packt mich, was ich da vor mir sehe, weil ich nicht die dümmliche Zeitschrift der Fluggesellschaft aufgeschlagen und nicht mit der Dame gesprochen habe, die meine halbe Armlehne in Beschlag nimmt und schnarcht, sondern Deinen Gedichtband – Gedichte! – Wachtelzeit, und da packt es mich eben, reißt mich mit, viel schneller und ehrlicher als der Rumpf der Maschine, der mich über den Kanal trägt, denn Dein Gedicht »Die Sieg« zeigt mir das Wasser und mich und zeigt mir den Lauf, den das Leben nimmt, meines und das des Menschen und des Flusses und des Menschen im Fluss seiner Zeit – in einer Klarheit, die uns eigentlich nie mehr vor Augen steht, weil wir immer nur auf Bildschirme starren, uns auf Bildschirme hinorientieren, wenn wir in unserem Raum sind, auch im Flugzeug, wenn in der Lehne des Vordersitzes ein Bildschirm hängt, als flössen wir darauf zu und darin ein, als wäre er die Mündung unseres Blicks.
Aber in Deinem Gedichtband – Gedichte! – Wachtelzeit heißt es, in dem anderen großen Flussgedicht darin, »Ein Kabbalist im Wasserwerk«:
Keine Farbe hat hier
Das Wasser, ist klar bis zum Grund. So auch
Sein Schweigen. Darin liegt Eden
Und auch das Wasser Deines Gedichts »Die Sieg« hat keine Farbe, nur das Schwarz der Buchstaben in dem wunderbaren Buch, das vor mir liegt, ganz ruhig, wie ich es so oft nicht sein kann, und sich nicht beirren lässt und zu mir spricht, als wäre es das Einzige auf der Welt und als wäre ich der Einzige. Und es spricht davon, dass die Sieg so gern übersehen wird:
gepriesen haben dich
Wenige, abseits der Ströme, und was nicht vor Augen kommt,
Lebt dennoch und freut sich
An heiteren Tagen.
Wie schön. Und wie immer, wie immer ist das kleinste Wort das ergreifendste: »an«. Bezeichnet es die Art von Tagen, an denen Freude stattfindet? »Freitags, wochentags, heiteren Tags freut sich die Sieg«? Oder bezeichnet es, worüber sie sich freut? »Ich freue mich an der Schönheit der Welt«? Oder beides? Und was hieße das? Dass man sich nur an heiteren Tagen an heiteren Tagen freut? Freuen kann? Dass so einem heiteren Flüsschen alle Tage zu heiteren werden? Das wage ich kaum zu hoffen, und das würde ich selbst einem so flussgewaltigen Dichter wie Dir nicht unterstellen.
Nun aber sagst Du weiter: Wer von der Quelle fortflieht, verliert sein Ziel aus dem Blick, je weiter er geht. Du sagst es besser, man muss es nachlesen. Und dann, sagst Du, passiert es, irgendwie – wie, sagst Du nicht –, dass »einer sich anhält, und | Er steht, gelehnt gegen die drängende Flut, || Und lauscht in das Nirgends, woher | Er kam und schmeckt in der Luft | Den Wasserstaub« und nimmt noch vieles Andere wahr, was sich in der Selbstverständlichkeit seines Uns-zugewandt-Seins schon wieder so sehr entzieht, dass wir seine ihm innewohnende Gegenständlichkeit leicht vergessen.
Wie schön – ein Moment des Innehaltens. Des Aussteigens. Ich kann hier aus der großen Maschine nicht aussteigen. Auf hoher See kann man nicht aussteigen, sagt auch Ernst Jünger über unsere Lebensreise auf dem Schiff der sozialen Welt. Aber Du sagst: Einer hält sich an. Er bringt sich zum Stehen, und damit bringt er das Wasser zum Stehen. Einfach so. Es ist gut.
Aber er zahlt einen Preis, denn »da ist er aber | Alt geworden darüber, der eine Augenblick | Hat ihm die Jugend zerstört«.
Das macht nichts. Man muss nicht immer jung sein. Zumal – diesen Trost sprichst Du mit fast wahnsinniger Deutlichkeit aus – unser Wirken und Werkeln, auch unseres, das des Dichters und des Briefeschreibers in ihrem manchmal heiter-verzweifelten Verständnistaumel, ihre Grenzen haben. Du sagst es mit großen Worten:
Alles sinnt über den Ursprung und
Träumt sich zurück, doch was einer bloß ausspinnt,
Ist reich nicht wie das, was ist und
Was war.
Was soll ich dann noch sagen?
Selten nur unversponnen grüßt Dich
Christophe
Klaus Anders
Wachtelzeit
Gedichte
Edition Rugerup, Berlin 2013
Softcover, 127 S.
€ 17,90 (D)
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Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet. Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.