von Jan-Eike Hornauer (Text und Bild)
München. »Heimat kann heimelig sein, aber auch unheimlich.« So strich Co-Herausgeber Fitzgerald Kusz am Donnerstagabend in der voll besetzten Bibliothek des Literaturhauses München die Bandbreite des Heimatbegriffes heraus. Gemeinsam mit Stamm-Herausgeber Anton G. Leitner verantwortet Kusz die 24. Ausgabe von DAS GEDICHT, die der »Heimat auf den Versen« ist, wie der Zeitschriften-Titel verrät. Neben den Herausgebern, die zu Beginn auch auf der Bühne zu Entstehung des Bandes und Perspektiven auf den Heimatbegriff befragt wurden, lasen über 20 Poeten aus ganz Deutschland sowie der Schweiz ihre zumeist extra für die »Heimat«-Ausgabe von DAS GEDICHT sowie die sie begleitende und erweiternde Online-Anthologie »Versheimat« (DAS GEDICHT blog) verfassten Gedichte. Durch den Abend führte die Kulturjournalistin, Autorin und Moderatorin Sabine Zaplin.
Sie hob auch gleich die Aktualität des Themas »Heimat« hervor, gerade die gegenwärtigen Migrationsbewegungen hätten die Herausgeber zu dieser Themenwahl bewogen. Doch sei die Wahl bei dieser poetisch-editorischen Paarung ohnehin naheliegend gewesen: Schließlich sei Kusz ein wahrer Pionier der Mundartdichtung, ja, Fränkisch müsse inzwischen eigentlich gar Kuszzisch heißen, und Leitner bewege dieses Thema ebenfalls seit Jahrzehnten – wenngleich oder auch weil er sich aus seinem Heimatort Weßling niemals fortbewegt habe. Zudem habe er mit »Schnablgwax« just heuer gar einen eigenen, freilich bairischen, Dialektpoesieband vorgelegt.
Es geht um »das Schöne und das Dumpfbackige«
Auf die Frage Zaplins, ob mit dem neuen DAS GEDICHT-Band eine Tradition fortgesetzt werde oder neue Trends sichtbar würden, antwortete Kusz ganz entschieden: »Eine Tradition wird nicht fortgesetzt; solche Texte hätten wir auch gar nicht aufgenommen.« Auffallend sei zudem: In nur sehr wenigen der eingereichten Gedichte sei das Wort »Heimat« überhaupt aufgetaucht – wohl weil es noch aus der Nazi-Zeit diskreditiert sei. Leitner pflichtete bei und ergänzte, dass es ihnen zwar »auch um das Schöne, aber eben auch um das Kleinkarierte und Dumpfbackige« gegangen sei – und um neue Perspektiven auf den Heimatbegriff, unter anderem solche, die durch die aktuellen Fluchtbewegungen geprägt sind: »Heimat wird heute neu gesehen, durch die ganzen Leute, die ihre Heimat verlieren; die verlieren ja unglaublich viel!«
Augenfällig sei bei Durchsicht der eingereichten Texte auch gewesen: Immer wieder werde Heimat mit Kindheit assoziiert, mit einem, aus Sicht der erwachsenen Dichter, verlorenen Paradies.
Ob es denn Unterschiede zwischen den alten und jungen Poeten gebe, wollte Zaplin noch wissen. Ohne überlegen zu müssen, bejahte Kusz und führte weiter aus: Bei den älteren Autoren gehe es um Idylle oder Nazizeit, die jüngeren interpretierten den Heimatbegriff weiter, gingen zudem »ziemlich unverkrampft« mit ihm um. Wobei sie, wie Leitner anfügte, aber durchaus kritisch seien.
Was sie von sich selbst erwarten, erwarten die Herausgeber, wie sich im Interview deutlich zeigte, auch von ihren Autoren: Nicht das Heimattümelnde, sondern das aus Distanz und Verbundenheit zugleich heraus Entstandene.
»Nicht als Frankenfuzzi durch die Lande ziehen«
So betonte zum Beispiel der Nürnberger Kusz, wenngleich er unbestreitbar tief mit seiner Heimat verwachsen ist: »Ich möchte nicht als Frankenfuzzi durch die Lande ziehen.« Die kritische Distanz sei ihm sehr wichtig. Außerdem fügte er hinzu: »Was für mich die Heimat ausmacht, ist einzig und allein die Sprache.« Da liegt es logischerweise nahe, dass die Gefahr der inhaltlichen Anbiederung wenig gegeben ist. Und es war eine weitere Facette des Heimatbegriffs benannt. Zuvor war schon klar geworden, dass er mit Personen und Orten (sowie auch der an sie gebundenen Zeit) verknüpft sein kann.
Im Dialekt, so waren sich die Herausgeber einig, seien aber nur wenige der eingereichten Poeme abgefasst gewesen. DAS GEDICHT 24 enthalte entsprechend zwar auch mal Mundart, sei aber eine hochdeutsche Publikation. Was wiederum durchaus der Zielsetzung entspreche, schließlich habe man ja nie eine Mundart-Ausgabe geplant, sondern eben vielfältige gegenwärtige poetische Perspektiven auf den Heimatbegriff darstellen wollen.
Die wurden den Zuhörern im Literaturhaus dann auch geboten: Paarweise enterten die Poeten die Bühne, trugen meist je zwei Gedichte vor. Schnell wurde hier die zuvor schon in der Theorie angerissene inhaltliche Bandbreite deutlich. Zudem, wie hier am Rande eingefügt sei, bemerkenswert: Die Altersspannweite der Poeten, die jüngste Lyrikern, Anna Münkel, zählt gerade einmal 15 Jahre, die älteste, Renate Schön, befindet sich mitten in den 80ern.
Gleich zum Einstieg des lyrischen Parts brachte Wolfgang Oppler eine, in Kapitalismus- und Globalisierungszeiten, logische weitere Facette des Heimatbegriffs auf: In »Die Belohnung« reist das lyrische Ich tausende von Kilometern um die Welt – nur um am Ende der mehrtätigen Tour in Australien in einer Aldi-Filiale zu landen und dort bajuwarisches Bier und teutonische Süßwaren zu erstehen. Man wird die Konsum-Heimat eben nicht mehr los.
Lockend und bedrohlich, ernst zu nehmen und zu verlachen
Und die Heimat allgemein nicht, sei sie nun positiv in einer Wirtschaft zu finden, wie in Opplers zweitem Gedicht, im Geburtsort, auch wenn jener etwa Dachau heißt, wie im Falle von Norbert Göttler, der bekennt »Ich bin aufgewachsen am Rande der Apokalypse« und dessen Heimat entsprechend die Wohlfühlzone im Zuge sich ändernder Wahrnehmung verlässt, oder in der Rolle der Mutter – die allerdings, wie Jochen Stüsser-Simpson darstellt, gegenüber einer alten Patientin durchaus auch von einem bärtigen Arzt wahrgenommen werden kann; Geborgenheit kennt kein Geschlecht, könnte man da sagen, und dass es bei den Mama-Hilferufen der mutmaßlich dementen Patientin letztlich nur um das geht: Geborgenheit.
Diese kann freilich auch die Rückkehr in die alte Heimatstadt bieten; doch soll man wirklich zurück an diesen Ort, an dem annähernd Stillstand herrscht, das fragt Stüsser-Simpson in seinem zweiten Gedicht, zeichnet hier den Heimatbegriff zugleich als lockend und bedrohlich.
Als Kindheitstraumort erscheint er hingegen bei Thomas Hald, gebrochen wird diese Darstellung bei Jürgen Bulla, in dessen »Winter ’77« zwar erst eine schöne Vater-Sohn-Szene beschrieben wird – dann aber der Sturz des Sohnes durch den schlittenziehenden Vater erst überaus spät bemerkt wird.
Und bei Ulrich Beck und Thomas Glatz wird die Bräsigkeit der dörflichen Zeitlosigkeit auf die humoristische Spitze getrieben; erstrebenswert erscheint das Dorf als Heimat hier nun eben nicht, der Blick auf es aber sehr erheiternd.
Dass Heimat auch in den Menschen liegt, zeigt sich satirisch zugespitzt und entfremdet in Fitzgerald Kusz’ »Nachbann« sowie sehnsuchtsvoll bzw. zufrieden in Renate Schöns beiden Gedichten.
Von Krieg bis Kunstdünger – der kritische Blick
Auf das Thema des Heimatverlustes durch Krieg geht Anna Breitenbach in »Flüchtklingskind« ein sowie auf das Nachwirken des Dritten Reichs bis heute in »Alte Geschichten«, in dem sie ein Lastwagen mit der Aufschrift »Schindler Transporte« irritiert. Anton G. Leitners »Kazedd-Rosl« setzt diese Spur fort. Und Wolfgang Richter führt sie noch weiter in die Vergangenheit, ebenfalls ohne die Gegenwart aus dem Blick zu lassen: Er berichtet von den Hexenprozessen in Düsseldorf – und davon, dass die bürgerlichen Abgeordneten die beantragte Rehabilitierung der Opfer aus dem 18. im 21. Jahrhundert verhindert haben, unter anderem da nach dem damaligen Recht ja alles richtig gewesen sei … Das lässt einen schon die Frage stellen, wie groß unsere zivilisatorischen Fortschritte tatsächlich sind (und ob überhaupt vorhanden).
Nun, Siegfried Völlger jedenfalls sieht »außer im Transportwesen / und dem Einsatz von Kunstdünger« keinen wirklichen Unterschied zwischen der altrömischen Epoche und der Gegenwart, das Herr-Sklave-Verhältnis als ungebrochen.
Heimat – das heißt also durchaus auch viel Kritik. Und doch: »Wer fort ist, / beginnt die Heimat zu schätzen.« So formuliert es Alfons Schweiggert – und bringt mit diesen Worten all die Ambivalenz, die im Literaturhaus zu Thema Heimat zu hören war, auf einen Nenner, sowohl was Ernst und Humor, als auch was Nähe und Distanz angeht.
Da bleibt mir nichts weiter, als mit diesen Worten von Gabriele Trinckler zu schließen: »ich halt jetz einfach ma / die klappe und kiekn loch ins firmament«.
Einige weitere Impressionen des Abends hat uns Maren Martell zu Verfügung gestellt: