von Jan-Eike Hornauer (Text und Fotos)
München. »Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir auf den Platz gehen, der unsere Stadt ausmacht, und unsere Stimme erheben«, befand Anton G. Leitner, Herausgeber von DAS GEDICHT und Chef des AGL Verlags, am späten Mittwochnachmittag auf dem Marienplatz. 17 Poetinnen und Poeten trugen hier Gedichte zum Thema Menschenrechte vor, initiiert hatte diese lyrische Demoaktion die Zeitschrift DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit Amnesty International, genauer der örtlichen Gruppe gegen die Todesstrafe. Es ging um Menschenrechte, Menschenwürde, den Wert der Meinungsfreiheit und darum, ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Genutzt wurde für die Demolesung der Umstand, dass aufgrund der Jubiläums-Veranstaltung am Abend zu 25 Jahren DAS GEDICHT im Literaturhaus zahlreiche Poeten aus ganz Deutschland und dem europäischen Ausland nach München angereist waren.
Großes Publikumsinteresse
Die Demolesung war eine Aktion, die auf ausgeprägtes Interesse und anhaltende Aufmerksamkeit stieß: Schnell bildete sich ein mehrreihiger Halbkreis von Zuhörern vor dem Rednerpult und dem Stand von Amnesty International, an dem Unterschriftenlisten für Menschenrechtsaktionen auslagen, die sich auch schnell gut füllten. Zudem verfolgten viele im Publikum das Programm über weite Strecken, hörten teilweise gar die ganzen anderthalb Stunden zu – bei einer Demonstration im öffentlichen Raum war das, wie Leitner begeistert erklärte, so nicht zu erwarten gewesen und »ein unerhofft großer Erfolg«.
Recht auf freie Meinungsäußerung: Privileg und Verantwortung
Mark-Oliver Fischer, Sprecher der mitausrichtenden Amnesty-International-Gruppe, betonte: »Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein ganz wichtiges!« In vielen Ländern jedoch gelte es nicht. Er rief dazu auf, sich allgemein für Menschenrechte einzusetzen und spezifisch für die freie Meinungsäußerung. »Es ist toll, dass wir diese Veranstaltung hier machen können«, sagte Fischer. Dies sei, in der globalen Perspektive, nicht selbstverständlich. Dieses Privileg müsse man würdigen und nutzen.
Nähe von Harmonie und Gewalt
Ludwig Steinherr, Mitbegründer von DAS GEDICHT und seit langem bei Amnesty International engagiert, erinnerte daran, dass am Tag der Poetendemo auch die Prozesse gegen in der Türkei inhaftierte Menschenrechtler beginnen sollten. In einem seiner Gedichte beschrieb er dann ein altes Foto, das hätte romantisch sein können, denn es zeigt einen feschen jungen Mann und eine attraktive junge Frau – doch schreit sie auf »unter seinen Schlagstockhieben«. Um die Nähe von Gewalt und Harmonie ging es zudem in seinem Gedicht »Synchron«, das, neben Poemen von zehn weiteren Dichtern, auch auf dem DAS GEDICHT-Flugblatt »Poeten für die Menschenrechte« abgedruckt ist, das vor Ort verteilt wurde. Es lautet so:
Synchron
Kindersoldaten spielen Fußball
mit abgehackten Köpfen
Der Jaina-Mönch legt den Mundschutz an
keine Mücke soll sterben
durch sein Atmen
Politik: eine Aufgabe auch für die Poesie
Die Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen, wie Steinherrs »Synchron« sie ausdrückt, thematisierte auch Klára Hůrková »Immer häufiger / schwitzt der Bildschirm Blut«, hieß es in ihren Versen, und später: »und wir / leben immer noch auf einer Zuckerspur«.
David Westphal forderte, unter anderem im Hinblick auf die zahllosen im Mittelmeer ertrunkenen und ertrinkenden Flüchtenden, »Grenzen / gegen Unmenschlichkeit«. Und Christophe Fricker setzte sich in seiner Vorrede für ein »Recht auf Unsicherheit« ein, denn dieses sei, im richtigen Maße, für Menschlichkeit unerlässlich. Christoph Leisten stellte vor seinem lyrischen Vortrag programmatisch fest: »Poetinnen und Poeten haben auch eine politische Aufgabe, gerade in Zeiten, in denen das freie Wort immer mehr in Bedrängnis gerät!« Und er mahnte im Gedicht: »wenn wir schweigen, / wächst hinter gittern die nacht.«
»Das größte Verbrechen ist es, nichts zu tun«, pflichtete Franziska Röchter bei und forderte, sich allgemein »für die Rechter derer einzusetzen, die dies nicht selber können«.
Sie sieht, wie sich in ihrem Gedicht »im spiegel« zeigte, die Welt in keinem guten Zustand, doch hat auch Hoffnung: »die welt ist neblig angelaufen / beschlagen alle spiegel / doch brechend aus dem scherbenhaufen / erwachsen einhornflügel«
»Es ist Zeit, die Menschenwürde zu achten«
Damit sich aber was bewegt, muss man eben was unternehmen. Dies betonte auch Jana Mathy, und sie fragte auffordernd sowie selbstkritisch in ihrem Schlussvers von »Unpolitisch«: »doch wo ist deine Meinung und wo ist nur deine stimme«.
»Es ist Zeit, die Menschwürde zu achten, von unserem Reichtum etwas abzugeben«, erklärte Timo Brandt, bevor er diese Forderung poetisch vertiefte. »Des Menschen Würde / ist immer noch / ein Konjunktiv«, prangerte Gerald Jatzek an. »Grenzwächter stehen erfüllt und gelb / vor dem Hintergrund gespenstischer Lichter«, bedauerte Anatoly Kudryavitsky.
Sujata Bhatt klagte im Gedicht an, dass auf dieser Welt immer noch Kinder durch ihre eigenen Mütter und Großmütter ermordet werden, weil nicht genug zu essen da ist, und dass Verstümmelung durch Beschneidung bei Mädchen nach wie vor an der Tagesordnung ist. Für eine moralische Gesellschaft und Frauenrechte machte sich auch Melanie Arzenheimer stark.
Neue Farbenlehre
Knut Schaflinger mixte die Worte des Artikels 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) so durcheinander, dass sich der Sinn zwar noch grob erahnen ließ, der Text aber grotesk bedeutungsfrei erschien.
Eine neue »Farbenlehre« brachte Michael Augustin vor: » Es stünde weniger schwarz / um unsere Zukunft, / wenn man die Soldaten aller Länder / auf die weiße Fahne vereidigte.«
In metaphysische, in göttliche Gefilde, die jedoch kritisch unsere Welt und Zeit betrachten, entführte erst Paul-Henri Campbell, und nach ihm trug SAID folgendes titelloses Gedicht vor:
von ihren bewachern verfolgt
nähern sich die götter
bedacht
auf die blässe ihrer haut
verfehlen sie jede berührung
der rest ist
staat und feuilleton
Auf der Suche nach Heimat
Unter anderem um Heimat ging es bei Semier Insayif. Er fragte: » wie oft muss ich in ein land gehen, um ein land zu haben? was heißt das, ein land bewohnen? wie lange muss ich über seine grenzen schauen?« Wo für ihn Heimat ist bzw. keine Heimat, konnte Christophe Fricker klar formulieren: »Zwischen zwei Glas Wein / warte ich auf Widerspruch.« Da dies Warten vergebens sei, wisse er: »Ich bin noch nicht zu Hause.«