von Jan-Eike Hornauer (Text und Fotos)
München. Ein abwechslungsreiches Mammutprogramm bot Anton G. Leitner | DAS GEDICHT anlässlich des Jubiläums »ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT« am Mittwochabend im Saal des Literaturhauses: Mehr als vier Stunden lang ging es, mehr als 50 Poeten aus zwölf Nationen und vier Generationen trugen Verse aus der aktuellen Ausgabe – Nummer 25, Titel »Religion im Gedicht« – vor, dazu gab’s ein Bühnen-Interview mit den Gründern der Jahresschrift und zwei Laudatoren würdigten die ausdauernde Poesie-Arbeit von Anton G. Leitner, seit Beginn an Herausgeber von DAS GEDICHT sowie auch sonst auf dem Felde der Lyrik seit Jahrzehnten rege und publikumswirksam tätig.
»Vollbracht, was niemand für möglich hielt«
»Heute verneigen wir uns vor einem Mann, der etwas vollbracht hat, was niemand für möglich hielt und viele für einen schlechten Witz.« So begann die Lobrede von Friedrich Ani, unter anderem Krimi-Bestseller-Autor und etablierter Lyriker, mit Anton G. Leitner verbunden seit den Tagen, in denen sie zusammen die Initiative junger Autoren (IJA) mitbegründeten. Er hob hervor, dass Leitners Zeitschrift »der Zeitlosigkeit verpflichtet« sei und bezeichnete sie als »ein Lebenswerk, eine Institution, ein Meisterwerk«. Mit ihr schreibe Leitner, der »stets ein Macher und kein Mann der Theorie« gewesen sei, Literaturgeschichte, wesentlich auch durch sie habe er bewiesen, dass »Lyrik einen unfassbar wichtigen Gegenwartswert bedeutet«. Weiter hob Ani hervor, dass Anton G. seinen Weg ohne seine Frau Felizitas Leitner so wohl niemals hätte gehen können – und dankte auch ihr.
»Unverzichtbares Zentralorgan der deutschsprachigen Gegenwartslyrik«
Laudator Christoph Leisten, unter anderem Mitherausgeber der Literaturzeitschrift »Zeichen & Wunder«, Poesiefestivalorganisator und arrivierter Lyriker, betonte: »Die Zeitschrift hat die fulminanten Neuentwicklungen der Lyrik maßgeblich mitbegleitet und mitgestaltet.« Heute zeige schon ein Blick ins Autorenverzeichnis, dass jenes sich lese »wie ein Who-is-who der letzten Jahrzehnte«. Besonders zu würdigen sei in diesem Zusammenhang, dass DAS GEDICHT zwar von Beginn an große Autorennamen anzuziehen verstanden habe, stets aber auch als »poetisches Labor« fungiert, eine »Scouting-Funktion erfüllt« und so eine »genuine Literaturzeitschriftenaufgabe wahrgenommen habe«. So sei DAS GEDICHT zu dem geworden, was es heute sei: »ein unverzichtbares Zentralorgan der deutschsprachigen Gegenwartslyrik«.
»Ich habe nicht gedacht, dass wir über die zweite Nummer hinauskommen«
»Jeder kennt das Bild ›Der arme Poet‹. Wie ist das denn jetzt finanziell?«, wollte Antonio Pellegrino vom Radiosender BR 2 im Bühnengespräch mit den DAS GEDICHT-Gründern Anton G. Leitner und Ludwig Steinherr von Leitner wissen. »Es ist, auf Bairisch gesagt, scheiße«, erklärte Leitner darauf hin unverhohlen und fügte hinzu, mit viel Glück schaffe sein Verlag gerade einmal eine schwarze Null, ohne dass er sich selbst Gehalt zahle. »Ohne meine Frau, auch meine Eltern und einige Freunde gäb’s die die Zeitschrift nicht.«
Auch deswegen wünscht er sich mehr Leser. Dass Lyrik nicht eben ein Massenpublikum erreicht, stört Steinherr hingegen weit weniger: »Ich finde es nicht deprimierend, dass der Kreis der Lyrikleser eher klein ist.« In der Antike, die heute so hoch gelobt werde, habe man schließlich auch nur Stückzahlen von 400 bis 500 erreicht. Zur Geschichte der Zeitschrift DAS GEDICHT, die aktuell in einer Auflage von 3.000 Exemplaren erscheint, erklärte Steinherr, dass sie für ihn, obwohl er das Projekt mit angestoßen habe, unerwartet erfolgreich verlaufen sei, was ihn natürlich sehr freue: »Ich habe nicht gedacht, dass wir über die zweite Nummer hinauskommen.«
Von der Kirchenkritik bis zum Gebet
Die von den Poeten gelesenen Gedichte stammten aus der aktuellen DAS GEDICHT-Ausgabe »Religion im Gedicht« sowie zuweilen auch aus der diese Sammlung erweiternden Internetanthologie »Religion und Lyrik«, beide herausgegeben von Anton G. Leitner und José F. A. Oliver. Die grundsätzliche Nähe von Religion und Lyrik, die beide dem Wissenschaftlich-Exakten gegenüberstünden, betonte Sabine Zaplin. Gemeinsam mit Nicola Bardola moderierte sie den Abend. Dieser ergänzte, durch Formen der Spiritualität werde mit Lyrik allgemein und in der vorliegenden Ausgabe im Besonderen dem Materialismus entgegengewirkt.
Vom kirchen- und auch glaubenskritischen Gedicht bis zum neuen Versgebet, vom Tiefernsten bis zum Heiter-Verspielten, vom intellektuellen bis zum Kinderpoem reichte die Bandbreite der dargebotenen Lyrikwerke.
Wie schwierig das Verhältnis von Religion und Welt sein kann, machte etwa Alfons Schweiggert deutlich:
Missionierung
Als die ersten Missionare nach Afrika kamen,
sagte der Menschenrechtler Desmond Mpilo Tutu,
besaßen sie die Bibel und wir das Land.
Sie forderten uns auf zu beten.
Wir schlossen die Augen und beteten.
Als wir sie wieder öffneten,
hatten wir die Bibel und sie das Land.
Den verbindenden statt des konfrontativen Charakter, den Religion haben kann, stellte hingegen Markus Bundi heraus:
Decharge
Einmal angenommen
das Helfen des Tragens
der Kreuze anderer
erleichtere
den aufrechten Gang
Paul-Henri Campbell wiederum ging es um die Wirkung von Religion auf die auch qua Amt Betroffenen in der Jetzt-Zeit: Das abendliche Alleinsein der Priester, die tagsüber ihre Herden umsorgen, erhob er zum Martyrium. Eine weltlich-religiöse Opposition machte Hans-Werner Kube auf: Er stellte in »hier und dort« vergleichbare Begrifflichkeiten aus der irdischen und der himmlischen Sphäre gegenüber: »dort ist die Quelle / hier ist der Tümpel / dort ist der Schatz / hier das Gerümpel […] hier ist Erklären / dort ist Vergeben / hier ist Theater / dort ist das Leben«
Welten im Zusammenprall
Die traditionell-spirituelle und die moderne Welt mit Nachrichtengeschehen, Ökonomie und Gesellschaftsordnungsalternativen ließ Ulrich Beck aufeinanderprallen: »in die Weinberge des / herrn ziehen ticker ein« heißt es in »der winzermeister« zu Beginn, und am Ende: »am hang vereinzelt / ein neuer Meister / in seinem Lauf / den halten selbst / ochs und esel auf«.
Diese Richtung schlug auch Gabriele Trinckler in »er. Schöpfung« ein: »horch mal die banknoten / in der säkularen partitur / singen mit engelszungen«
Mönche beim Stundengebet und tieffliegende Kampfjets wiederum kontrastierten sich bei Thomas Hald. Im Vergleich stellte Norbert Göttler den wissenschaftlich-detaillierten und den staunend-umfassenden Zugang zur Welt dar. Er verteidigte den letzteren und verwies auf die Grenzen der Wissenschaft: »Wer Farbe von Gemälden kratzt, / wird nicht die Kunst verstehen, / sondern nackte Leinwand finden. // Wer Sterne nach ihrer Zahl berechnet, / wird nicht den Himmel finden, / sondern an der Unendlichkeit verzweifeln.«
Ein probates Rezept, um Religion und Wissenschaft in Einklang zu bringen, präsentierte Melanie Arzenheimer augenzwinkernd: Es gehe darum, »keine Einzelheiten zu nennen / um sich die Finger / an nichts zu verbrennen«.
Anders ging SAID vor: Er trennte himmlische und irdische Sphäre einfach.
Kraft durch Religion
Sujata Bhatt hingegen legte poetisch dar, dass selbst ein an sich vielleicht nicht so angenehmes göttliches Erscheinen im eigenen Leben immer noch ein Pluspunkt ist. Augusta Laar trug mit ihrem »psalm« ein Lobpreisgebet vor, in dem sie Gott in ihrem Zimmer, an ihrem Fenster und überall sieht. Barbara Peveling ließ mit »logischer himmel« und »vater im himmel« weitere neue Gebetstexte folgen, die Kraft schöpfen und geben, den Glauben bekunden und festigen sollen. Und Jürgen Bulla zeichnet in seiner »Donnerstagsfuge« die Kirche als einen Ort, in dem man, auch dank der Musik, zu sich und zur Ruhe kommen und eben auch als Erwachsener wieder staunen kann wie früher als Kind.
Um einen zeitgemäßen Zugang zur Schöpfung rang Ulrich Johannes Beil. Denn dass diese »eigens für uns gemacht« sei, sei ein Glaube des 18. Und 19. Jahrhunderts, heute müsse man das anders betrachten.
Glaube und Komik
Slam-poetisch wurde es mit »Flieg Gott, flieg!« von Bumillo. Die heitere Seite von Glaubensfragen betrachteten außerdem etwa Georg »Grögg« Eggers, Jochen Stüsser-Simpson und Thilo Mandelkow. Bei Eggers ging es um ein Schaf, »es gläubte brav«, und den auf jenes treffende Wolf, das es verspeiste, ohne jedoch zwangsläufig böse zu sein. Stüsser-Simpson berichtete von dem Kindheitsvergnügen, sich mit Freunden schmutzige Witze auszudenken, um sie hernach beim Beichten dem humorlosen Pfarrer vorzutragen. Und Mandelkow ließ die Schüler in »religiöser wahnsinn« auf dem Pausenhof Religionseinklebebildchen aller Couleur (etwa christlich, islamisch, hinduistisch, antik-religiös oder atheistisch fundiert) genau so tauschen, wie es sonst nur mit den Sammelbildchen zu den großen Fußballturnieren geschieht, also voll offener Begeisterung, die alle verbindet.
Gedichte für Kinder
Einen besonderen Schwerpunkt bildeten Gedichte für Kinder. Wie auch schon für die vorige DAS GEDICHT-Ausgabe hat Uwe-Michael Gutzschhahn für die Jubiläumsnummer 25 abermals einen Kinderlyrikteil zusammengestellt. Zwar waren keine Kinder im Publikum, doch da gute Kindergedichte auch Erwachsene begeistern, durften sie freilich nicht fehlen. Auffällig war dabei: Gerne ging es hier um den Tod. Und dies zwar durchaus ernst, jedoch immer so, dass man das Gedicht als Leser oder Hörer mit einem guten Gefühl verlässt, etwa bei Michael Augustins totem Hamster, der dann in einem Vogel wiedergesehen wird, oder bei »Der Opa ist tot« von Gerald Jatzek. Denn der geliebte Mensch ist hier zwar nicht mehr, doch Wichtiges von ihm ist geblieben und bleibt, neben dem Geruch nach Bier etwa auch der mutmachende und tröstende Satz, »dass Menschen sich vor nichts und niemand / fürchten sollen«. Und Uwe-Michael Gutzschhahn selbst rückt die Hauskatze zwar in Todesnähe – doch jene wird aus der Perspektive des Tieres gezeichnet als Nahen von Erlösung und Hoffnung. Man kann also, jenen Versen zufolge, stets auch im Tragischen das Gute finden und so auch leicht zu dem Schluss kommen, und das eben nicht nur wegen der lustigen und albernen Kinderpoeme, die es, etwa von Anna Breitenbach, natürlich auch zu hören gab, den Franziska Röchter in »magie« zog: »der große weltenerfinder / muss wohl ein weiser zauberer sein«